Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

März 2024

Mit dem Wind ...  

... über die März-Kolumne nachgedacht. 29 Märztage fallen in diesem Jahr in die österliche Fastenzeit. Und da bietet sich doch fast zwangsläufig ein eher besinnliches Thema an. Etwas Nachdenkliches über die Begriffe „Stille“ und „Schweigen“ vielleicht? Oder mal unsere St.-Otto-Hausexerzitien in den Fokus nehmen? Zur Abwechslung könnte ich in diesem Jahr auch die unterschiedlichen Fastenriten und -bräuche beleuchten.
Aber mal ehrlich: Der März liegt schon immer, also spätestens seit dem 6. Jahrhundert, in der Fastenzeit. Selbst die Gregorianische Kalenderreform hat daran nichts geändert. Restwinter, Fastenzeit, trübsinnig, grau, trostlos und viel zu lang! Der Monat ist einfach eine arme Socke!
Spätestens im März vergeht wahrscheinlich auch den eingefleischtesten Winter-Fans die Lust auf Schneeballwerfen, Langlauf oder Après-Ski. Es ist allerhöchste Zeit für einen Hauch oder besser noch eine richtig steife Brise Frühling!
Einkehr, Stille und Schweigen war lange genug. Das zumindest meinen die eskalierenden Vogelhorden, die sich weder durch einen der Frühlingsstürme aus Nordost noch durch gelegentliche Temperaturstürze in den Minusbereich von ihrer Vorfreude auf Sonne, Liebe und Leidenschaft abhalten lassen.
Wenn ich als „alter Sack“, wie meine Tochter mich gerne mal respektlos tituliert, vielleicht nicht unbedingt Liebe und Leidenschaft zum zentralen Thema meiner Märzkolumne erklären sollte, sieht das mit der Sehnsucht nach Sonne und Wärme ganz anders aus.
Die ersten Frühlingstage im März verbinde ich dabei besonders mit zwei Inseln, von denen ich auf der einen, der Nordseeinsel Langeoog, aufgewachsen bin. Dort gab es in jedem März irgendwann diesen sonnigen Nachmittag, an dem ich an der südwestlichen Backsteinwand unseres Hauses lehnte. Die Augen zusammengekniffen, den Reißverschluss des Parkas heldenhafte 10 cm geöffnet und mutig die Pudelmütze, die den langen Winter über mit meiner Kopfhaut verwachsen schien, zum ersten Mal seit fast vier Monaten vom Kopf genommen. So stand ich da und genoss die ersten Strahlen der Märzsonne im Gesicht, die warmen Backsteine in meinem Rücken und vergaß Zeit und Raum und die langen, kalten Wintermonate. Zumindest, bis sich die nächste Wolke vor die Sonne schob oder ich durch einen eisigen Windstoß schlagartig daran erinnert wurde, dass der Winter sich noch nicht ganz verabschiedet hat.
Und dann ist da noch diese zweite Erinnerung, die jedes Jahr pünktlich mit den ersten Sonnenstrahlen im März aufploppt. Die Klassenfahrt nach Föhr, Ende der 90er. Als junger Lehrer war ich noch unbedarft genug, um mit 28 Berliner Viertklässlern und der Deutschen Bahn für volle 10 Tage in ein Schullandheim auf diese wunderschöne Nordfriesische Insel aufzubrechen. Der Schnäppchenpreis von 10 Tagen zum Preis von 6 sollte dazu beitragen, mit Sparfüchsen wie mir, in der belegungsarmen Zeit das selbstbewirtschaftete Haus zu füllen. Zehn Tage unterwegs mit einem Haufen heimwehkranker Großstadtkinder und das in der Vor-Smartphone-Zeit! Da können die Tage ganz schön lang werden – müssen sie aber nicht.
Die Klassenfahrt nach Föhr hielt nämlich neben dem Luxus, den Tag ganz ohne das Diktat fest vorgeschriebener Essenszeiten verbringen zu dürfen, eine Dekade herrlichstes Frühlingswetter für uns bereit. Ich erinnere mich an einsame, frühmorgendliche Joggingrunden durch raureifglitzernde Wiesen, lange Nachmittage mit Büchern, Neckereien und Kickerrunden auf der Sonnenterasse, Wanderungen am Strand, gemeinsames Abhängen am Lagerfeuer und todmüde Schülerinnen und Schüler – erschlagen von viel zu viel Natur, Sauerstoff, Bewegung, Ruhe und Stille.
Oh! Da wollte ich das Thema „Stille“ doch eigentlich weglassen und galant in den November verschieben?! Und jetzt das: Stille, Ruhe, Entspannung! Und das mitten hinein in die Aufbruchsstimmung der Natur! Zerschieße ich mir da gerade etwa ungewollt meine eigene Kolumne? Oder beginne ich vielleicht den eigentlichen, den tieferen Sinn der vorösterlichen Fastenzeit zu begreifen? Da geht es nämlich vielleicht gar nicht um Trübsinn, Reue, Entbehrung und Verzicht, wie uns das leider viel zu oft gepredigt wird. Vielmehr schenkt uns diese Zeit eine Pause, eine Möglichkeit, zumindest gedanklich und spirituell das Hamsterrad unseres Alltags für einige Zeit zu verlassen. Wie eine Klassenfahrt auf eine frühlingseinsame Insel den stundenplangetakteten Schulalltag unterbricht.
Die Fastenzeit als Reset. Und für den brauchen wir keine Pläne, keine Fasten-Vorsätze, keine Selbstkasteiung, sondern nur den Mut, aufzubrechen und zuzulassen. Ich sage nur: 28 Zehnjährige, Deutsche Bahn, achtmal umsteigen, kein Telefon, Selbstversorgung statt VP, 10 für 6. Ein bisschen Irrsinn gehört schon dazu.
Und wenn es uns dann vielleicht sogar gelingt, die Fastenzeit als eine Art Vorfrühling zu feiern, die als helle, freundliche, Herz und Geist erwärmende Zeit des Aufbruchs dem Osterfest den Weg bereitet, dann sind wir gut vorbereitet, auf alles, was da kommt!